„Beim Wolf sind wir immer zwei Schritte zu spät“
Marcel Züger im Interview
Heimische NGO-Vetreter führen seit Jahren die Schweiz als Vorbild in puncto Herdenschutz an. Wie viel investierten öffentliche Hand und Private in Herdenschutzmaßnahmen?
Marcel Züger: Die öffentliche Hand hat in den letzten Jahren jährlich 10 bis 20 Millionen Schweizer Franken (CHF) an öffentlichen Geldern in den Wolfsschutz investiert. Die Landwirte haben einen Mehraufwand in derselben Größenordnung, der allerdings nicht abgegolten wird.
Welche Maßnahmen sind das vorrangig?
Der größte Teil floss in Schutzzäune. Gefördert wurden aber auch – zertifizierte – Herdenschutzhunde, von denen es etwa 300 in der Schweiz gibt, was wenig für das ganze Land ist. Ebenfalls aus den Herdenschutzmaßnahmen finanziert wurde Infrastruktur für die Hirten (Wohncontainer, die auf die Almen geflogen wurden etc.), zum Teil auch Nachtsichtgeräte und andere technische Gadgets. Hinzu kommt noch ein aufwändiges Monitoring.
Wie hoch ist der Anteil der
behirteten Almen in der Schweiz?
Dieser beträgt etwa 90 % in der gesamten Schweiz. Die Behirtung selbst gilt übrigens nicht als Herdenschutz. Verständlich – wir hatten nämlich auch Wolfsangriffe untertags, wenn Hirten bei der Herde anwesend waren.
Die Schweiz geht ja nun einen etwas anderen Weg als bisher. Haben Politik und auch viele Experten das Thema Wolf anfänglich falsch eingeschätzt?
Ja, eindeutig. Vieles basierte auf alten Einschätzungen und Erfahrungen aus Osteuropa. Das sind andere Landschaften und dort ist man mit den Wölfen immer anders umgegangen. Man hat sie immer verfolgt. Der Wolf ist ein Meister darin, sich an neue Gegebenheiten anzupassen, er ist der erfolgreichste Beutegreifer auf der Nordhalbkugel. Es gibt ihn vom Meer bis ins Hochgebirge, von der Steppe bis in den geschlossenen Wald. Er hat kein spezifisches Profil, braucht nur Futter und einen kleinen Rückzugsraum.
Einerseits haben sich diese Erkenntnisse erst in den letzten zehn Jahren durchgesetzt, andererseits hat natürlich auch das Propagandagebilde der Wolfsbefürworter bremsend gewirkt, hinter dem auch ein Geschäftsmodell und viel Politik stecken.
Aus Ihren Erfahrungen im
Kanton Graubünden: Wie hat sich das Wolfsthema entwickelt, wo liegen die Hauptprobleme?
Ursprünglich hieß es, der Wolf sei ein scheues Tier, ein Waldbewohner und stelle hohe Ansprüche an den Lebensraum. Das würde heute in Kantonen wie Graubünden oder Wallis sicher niemand mehr behaupten, weil es einfach nicht stimmt. Die Verunsicherung bei der – auch nichtlandwirtschaftlichen – Bevölkerung und bei den Touristen nimmt stetig zu. Fragen, ob man am Abend noch mit dem Hund rausgehen kann, ob man beim Pilzesuchen sicher ist u. Ä., häufen sich.
Wie haben sich die Risszahlen entwickelt?
2020 und 2021 hat es im Kanton Graubünden jeweils etwa 250 Wolfsrisse gegeben. 2022 wurde so viel wie nie in den Herdenschutz investiert und dennoch gab es eine Verdoppelung der Risszahlen auf über 500. Diese Entwicklung kennen wir auch aus Frankreich und sie zeigt, wie lernfähig der Wolf ist. 2023 waren es etwa 300 Wolfsrisse.
Wo liegen die Gründe für den Rückgang im letzten Jahr?
Beim Herdenschutz wurde nicht mehr so massiv nachgelegt, aber im Winter 22/23 wurden so viele Wölfe wie nie zuvor erlegt. Vor allem wurden erstmals Alttiere geschossen (davor durften nur Jungtiere entnommen werden, Anm. d. Red). Insgesamt gab es im letzten Jahr in der Schweiz 39 Abgänge durch gezielte Entnahmen und Verkehrsunfälle. Ich betrachte allerdings nicht das Kalenderjahr, sondern das „Alpjahr“, das Mitte September endet und neu beginnt.
Wie stehen Sie zum Kurswechsel in der Schweiz, die nun ein
Drittel der Wolfsrudel zum
Abschuss freigab?
In der Schweiz wird laufend die Schraube stärker angezogen, aber man ist immer zwei Schritte zu spät. Bis 2004 brauchte es 50 nachgewiesene Nutztierrisse, damit ein Abschuss bewilligt werden konnte. Diese Schwelle wurde laufend reduziert. Im Frühjahr 2023 gab es die letzte Verschärfung, sodass es bei einem Einzelwolf nur mehr sechs und bei einem Rudel acht Risse braucht, damit eine Abschussbewilligung erteilt werden kann. Die neueste Verschärfung sieht maximale regionale Dichten vor. Es gibt fünf Regionen, wo jeweils zwei bzw. drei unauffällige Rudel leben sollen. Insgesamt wären es dann zwölf Rudel, verteilt über die ganze Schweiz. Im laufenden Winter wurden erstmals Entnahmen ganzer Rudel verfügt. Das Bundesamt für Umwelt hatte Bewilligungen für zwölf Rudel ausgestellt, die Umweltorganisationen haben mit Beschwerden die Abschüsse von sieben Rudeln blockiert.
Wie viele Wölfe wurden in
diesem Winter entnommen?
Die definitiven Zahlen liegen nicht vor, es werden
voraussichtlich um die 50 Wölfe sein, die erlegt wurden. Damit wird nicht einmal die Hälfte des Zuwachses abgeschöpft, das Wachstum geht also weiter. Wichtig ist aber der Kurswechsel. Wir nähern uns immer mehr einem pragmatischen Umgang mit dem Wolf. Aber eben leider immer einen Tick zu spät.
Was erwarten Sie für die heurige Almsaison in der Schweiz?
Es wird heuer spannend. Man wird sehen, wie sich die stärkeren Eingriffe in die Rudel, bei Einzeltieren, bei Alt- und Jungtieren auswirken werden. Es gab auf jeden Fall ein Aufatmen bei den Almbauern, die in den letzten Jahren sehr angespannt waren. Nun gibt es wieder eine Perspektive für die Betriebe.
Josef Oberweger im Interview:
Was bedeutet die jüngste Stellungnahme der
EuGH-Generalanwältin, wonach u. a. Abschüsse das allerletzte Mittel bleiben müssten und sich stattdessen die Landwirtschaft anpassen müsse, für den Umgang mit dem Wolf?
Josef Obweger: Diese
Stellungnahme ist für mich nicht nachvollziehbar. Wölfe stehen in Europa nicht auf der Roten Liste gefährdeter Tierarten der IUCN. Die Population muss aus meiner Sicht länderübergreifend bewertet werden. Die Aussagen passen auch nicht mit der Empfehlung der EU-Kommission von Dezember 2023 – nämlich den Schutzstatus zu lockern – zusammen. Die Almwirtschaft kann sich alleine schon von der Kleinstrukturiertheit her nicht anpassen. Es wird niemals gelingen, flächendeckend Herdenschutzmaßnahmen auf unseren Almen umzusetzen! Die Verordnungen der Bundesländer sind nach wie vor gültig und müssen daher auch weiterhin umgesetzt werden.
Es scheint, dass dem Schweizer Modell mit enormen Investitionen in Herdenschutzmaßnahmen kein Erfolg beschieden war. Was heißt das für Österreich?
NGOs verweisen immer auf die Schweiz, wo angeblich Herdenschutz so gut funktionieren soll. Nun wurde ausgerechnet dort in den Wintermonaten die Wolfspopulation drastisch reduziert, weil man angesichts der raschen Vermehrung sonst keinen Ausweg mehr sah. Für Österreich bedeutet dies, dass die jagdliche Regulierung von Wölfen die einzige wirksame Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der Almbewirtschaftung darstellt.
Dies belegen auch die im Jahr 2023 zurückgegangenen
Nutztierrisse in Kärnten und Tirol.
Wie sehen Sie der kommenden Almsaison entgegen? Was erwarten Sie für die Auftriebszahlen und für den Tourismus?
Die Auftriebszahlen von 2023 zeigen, dass erfreulicherweise erstmalig wieder mehr Rinder als im Jahr zuvor aufgetrieben wurden. Bei den Schafen ist die Situation jedoch wesentlich anders, im Vorjahr ist der Auftrieb österreichweit um ca. 6.000 Stück zurückgegangen. Hier besteht in vielen Regionen ein direkter Zusammenhang mit wiederholten Nutztierrissen durch Wölfe. Diese Entwicklung wird sich schon bald auf unser Landschaftsbild auswirken. Schafe beweiden die exponierteren steilen Hänge – ist das nicht mehr der Fall, nehmen Erosionen zu und die Biodiversität geht zurück. Solche Almen sind dann auch für die Freizeitnutzung und den Tourismus nicht mehr so attraktiv.
Almbesucher sollten sich einmal bildlich vor Augen führen, was es heißen würde, wenn einem auf jeder Alm mehrere Herdenschutzhunde begegnen würden, deren Aufgabe es ist, die Herde vor jedem Eindringling –also auch dem Menschen – zu beschützen. Das Gefahrenpotenzial würde sich massiv verschärfen und Haftungsfragen eine nicht vorhersehbare zusätzliche Dimension erhalten. Ich habe den Eindruck, dass dies vielen Tourismusverantwortlichen und auch den alpinen Vereinen noch immer viel zu wenig bewusst ist.